Leseproben
Titel: | Der brennende Adventskranz |
Sternderl schau'n aus der Anthologiereihe:
Gerda Hillebrand
Sternderl schaun
(für Mama)
Es war einst ein Geschwisterpaar, das Mädchen besuchte wohl
gerade die Grundschule, der Bruder war wenig älter. Sie wohnten
mit ihren Eltern in einer kleinen Stadt, nahe dem Waldrand. Man
sah sie selten und dann stets gemeinsam, wie Hänsel und Gretel im
gleichnamigen Märchen. Außerdem erzählte man sich, dass deren
Mutter schon längere Zeit siech darniederlag.
Wochen vergingen, in denen die Kinder wie vom Erdboden verschluckt
schienen. Die Adventzeit zog ins Land, die Vorbereitungen
für das besinnlichste Fest im Jahr waren überall spürbar. Die Natur
legte sich schlafen, eine feine Schneedecke überzog Wald und
Wiesen. Kurz vor dem Weihnachtsfest hatte wohl der Tod ein Einsehen
mit der armen Frau und beendete das lange Siechtum. Als es
darum ging, die Kleinen vom Ableben ihrer Mutter zu unterrichten,
da tat es die Großmutter der Kinder, eine kleine, ältliche und zarte
Dame, auf so liebevolle und unsagbar behutsame Art, die mich
heute noch bezaubert.
Die Frau nahm ihre Enkelkinder an den Händen, ging mit ihnen
ein Stück eines einsamen Waldweges, blieb vor unserem Haus
stehen, zeigte in das Dämmerdunkel des Firmaments und erklärte
mit ruhiger und sanfter Stimme den Kindern:
»Seht euch diesen strahlenden Sternenhimmel an, meine Kleinen!
All die vielen Sterne, die euren Augen noch nicht verborgen sind,
liegen großteils in der Vergangenheit, weil sie so weit entfernt sind.
Dahinter gibt es noch viel mehr, was keine Menschenseele bisher
erblickt hat und das nennt man Ewigkeit. Diese Endlosigkeit beherbergt
alle Verstorbenen. Die hellen Sterne da oben, das sind die
Augen jener Toten, die erst kürzlich dahingegangen sind. Und da!
Seht einmal! Genau über euch, sind zwei helle, kleine Sterne, knapp
nebeneinander! Das sind die Augen eurer Mutter, die immer auf
euch beide hernieder blicken. Sie beobachten jeden eurer Schritte.
Sie sind immer um euch, auch wenn der Himmel von Wolken verhangen,
traurig und düster erscheint, und ihr das Sternenpaar nicht
erblicken könnt. Euer Mutter Augen sehen euch und sind mit euch.
Sie lässt euch nicht allein, denn sie liebt euch mehr denn je, sie ist
nur ein kleines Stückchen weiter von euch entfernt«.
Die Kinder waren wohl sehr traurig, aber immerhin fühlten sie
sich ein wenig getröstet und nicht ganz so einsam. Ehrfurchtsvoll
blickten die beiden Kleinen in die mittlerweile sternenklare Nacht
hinauf, winkten zaghaft den hellen Sternlein zu, ehe sie sich mit
ihrer Großmutter umwandten, um wieder den Heimweg anzutreten.
Meine Mutter war Zeugin dieser wunderbaren Begebenheit, die
sie mir am Weihnachtsabend erzählte. Ich war damals etwa im
gleichen Alter des Knaben, und mich rührte diese Geschichte zu
Tränen. In meiner Kindlichkeit stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn
dieses Schicksal mich und meine Geschwister beträfe. Mitleid und
Trauer über das schwere Los der Kinder, aber auch Angst und
Sorge, dieses Unglück könnte auch unsere Familie treffen, ließen
mich als Häuflein Elend zurück.
Tief beeindruckt suchte ich die nächsten Wochen täglich den
Sternenhimmel ab, um das Sternenpaar zu erspähen und mir sicher
zu sein, dass die Augen der Verstorbenen auch tatsächlich auf ihre
hinterbliebenen Kinder blickten. Mittlerweile sind einige Jahrzehnte
vergangen, doch diese Geschichte hat nach wie vor nichts von ihrem
Zauber und Reiz eingebüßt.
Seit einigen Jahren stehe ich oft vor dem Zubettgehen am offenen
Fenster, schaue in eine sternenklare Nacht, entdecke zwei helle
kleine Sternenpaare, ganz dicht nebeneinander, als würden sie sich
küssen. Mich dünkt, als bräuchte ich nur meine Arme auszustrecken,
um sie berühren zu können, so nahe scheinen sie mir.
Manchmal bemerke ich sogar ein leichtes Zwinkern und zwinkere
zurück. Wenn ich ein Weilchen hinaufblicke, ist mir sogar, als
würde sich eine Aureole um jeden einzelnen dieser Sterne legen.
Sogar ein leises Lächeln, gleich dem Lächeln in den Augen erblicke
ich. Dann fühle ich mich behütet und getröstet, vielleicht ebenso wie
die beiden Kinder aus längst vergangenen Tagen.
»Gute Nacht, Mama, gute Nacht, Papa, schlaft gut, vielleicht
sehen wir uns morgen wieder.«